Grundlagen der Suchtprävention im Betrieb

Die Legalisierung von Cannabis in Deutschland hat in vielen Betrieben die Frage aufgeworfen, ob neue oder erweiterte Ansätze zur Suchtprävention notwendig sind. Sind Strukturen und Regelungen zur betrieblichen Suchtprävention etabliert, lässt sich auf diese Neuerung gut und ohne große Umstellungen reagieren.

Die International Classification of Diseases (ICD-11) benennt in ihrer elften Fassung „Störungen durch Substanzgebrauch oder Verhaltenssüchte“. Substanzgebrauch meint den Konsum psychoaktiver Substanzen wie zum Beispiel Alkohol, Cannabis, synthetische Cannabinoide oder Cathinone, Opioide, Beruhigungsmittel, Kokain, Stimulanzien, Koffein, Halluzinogene, Nikotin, flüchtige Inhalationsmittel und Medikamente. Zu den Verhaltenssüchten zählen unter anderem Glücksspiel und Gaming.

Es gibt ein breites Spektrum von Konsummustern. Dieses reicht von keinem und risikoarmem Konsum über riskanten und schädlichen Konsum bis hin zur Abhängigkeit. Die ICD-11 teilt in vier Stufen ein, die das Spektrum von Substanzkonsum bis -störung beschreiben.

Nach Nullkonsum und risikoarmem Konsum werden folgende Level unterschieden:

  • gefährlicher Substanzkonsum,
  • Episode schädlichen Substanzkonsums,
  • schädliche Muster des Substanzkonsums und
  • Substanzabhängigkeit.

Ziel dieses neuen Einteilungssystems in vier Ebenen ist es, einen problematischen Konsum frühzeitig zu erkennen, um gezielte Präventions- und Behandlungsmaßnahmen anbieten zu können. Damit soll ein Übergang zu schädlichen Konsummustern und Abhängigkeit möglichst vermieden werden.

Der Übergang von gelegentlichem zu zwanghaftem Drogenkonsum und die anhaltende Anfälligkeit für Rückfälle sind auf neurologische Anpassungen in den Gehirnkreisläufen zurückzuführen, die für Belohnung, Gedächtnis und Kontrolle zuständig sind. Bei Sucht verringern sich Kontrollmechanismen, während Belohnungs- beziehungsweise Antriebsmechanismen sowie suchtspezifische Gedächtnisanteile zunehmen. Die Sensitivität in Bezug auf Alltagsreize wie Sport, Essen, soziales Miteinander verringert sich, während sich die drogenassoziierte Sensitivität verstärkt.

Die Entstehung einer Abhängigkeit wird wie bei vielen anderen Erkrankungen durch eine Kombination aus biologischen (wie Genetik, Erkrankungen, Hirnstoffwechsel), psychologischen (Persönlichkeit, Einstellungen, Erfahrungen, Beziehungen) und sozialen Faktoren (sozioökonomischer Status, familiäre Umstände, Kultur) beeinflusst.[1]

Substanzseitig beeinflussen die Art der Verabreichung, die Wirkung, eine frühzeitige Anwendung, die Verfügbarkeit und die Kosten das Suchtpotenzial.

Merkmale der Abhängigkeit

Die ICD-11 beschreibt drei Merkmale einer Abhängigkeit:

  • Beeinträchtigung der Kontrolle über den Substanzkonsum in Bezug auf den Beginn, das Ausmaß, die Umstände oder Beendigung des Konsums, oft, aber nicht notwendigerweise begleitet von einem subjektiven Gefühl von Drang oder Verlangen, die Substanz zu konsumieren
  • Zunehmender Vorrang des Substanzkonsums vor anderen Aspekten des Lebens, einschließlich Aufrechterhaltung der Gesundheit und der täglichen Aktivitäten und Pflichten, sodass der Substanzkonsum trotz des Auftretens von Schäden oder negativen Folgen fortgesetzt oder eskaliert wird (zum Beispiel wiederholte Störung von Beziehungen, berufliche oder schulische Folgen, negative Auswirkungen auf die Gesundheit)
  • Physiologische Merkmale, die auf eine Neuroanpassung an den Substanzkonsum hinweisen und sich wie folgt äußern:
    ▸ Toleranz,
    ▸ Entzugssymptome nach Beendigung oder Reduzierung des Konsums der Substanz oder
    ▸ wiederholter Konsum der Substanz zur Vermeidung oder Linderung von Entzugserscheinungen. Die Entzugssymptome müssen für das Entzugssyndrom der Substanz charakteristisch sein.

Für eine Diagnose müssen mindestens zwei dieser drei Merkmale über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten zutreffen. Die Diagnose kann auch gestellt werden, wenn der Substanzkonsum mindestens drei Monate lang ununterbrochen ist.

Zu den Störungen durch süchtiges Verhalten gehören auch die Glücksspielsucht (vorwiegend offline) und Spielstörung (vorwiegend online). Sie sind durch ein anhaltendes oder wiederkehrendes Spiel-/Glücksspielverhalten gekennzeichnet und äußern sich durch:

  • Beeinträchtigung der Kontrolle über das Spielen/Glücksspiel (zum Beispiel Beginn, Häufigkeit, Intensität, Dauer, Beendigung, Kontext),
  • zunehmende Priorität des Spielens/Glücksspiels vor anderen Lebensinteressen und täglichen Aktivitäten und
  • Fortsetzung oder Eskalation des Spielens/Glücksspiels trotz des Auftretens negativer Konsequenzen.

Das Verhaltensmuster ist so schwerwiegend, dass es zu einer erheblichen Beeinträchtigung im persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder in anderen wichtigen Funktionsbereichen führt.

Andere spezifizierte Störungen aufgrund von Suchtverhalten sind zum Beispiel Kauf-Störung oder Störung der Nutzung sozialer Netzwerke.

Wie verbreitet sind Suchterkrankungen?

Der Epidemiologische Suchtsurvey 2021[2] zeigt, dass in Deutschland

  • circa 6 Millionen Menschen rauchen,
  • circa 2,9 Millionen Menschen einen problematischen Medikamentenkonsum haben,
  • circa 1,6 Millionen Menschen alkoholabhängig sind,
  • circa 1,3 Millionen Menschen einen problematischen Konsum von illegalen Drogen und Cannabis vorweisen,
  • circa 1,3 Millionen Menschen eine glücksspielbezogene Störung haben [3],
  • circa 560.000 Menschen onlineabhängig sind.

Abhängigkeit im Betrieb

Warum kann eine Abhängigkeit im Betrieb zum Problem werden? Welche Auswirkungen hat Sucht auf Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit?

Missbräuchlicher Substanzkonsum und Verhaltenssüchte können am Arbeitsplatz zu Sicherheits- und Gesundheitsrisiken führen. Das Risiko einer Selbst- und Fremdgefährdung sowie eines Unfalls ist erhöht. Arbeitsunfähigkeitszeiten können steigen. Auch kann sich die Arbeitsleistung verschlechtern. Im Extremfall können die arbeitsvertraglichen Pflichten nicht mehr erfüllt werden.

Präventionsvorschriften

Welche Vorschriften im Bereich der Prävention sind einschlägig? Was ergibt sich daraus für Arbeitnehmende? Was ergibt sich daraus für Arbeitgebende?

Rechtliche Regelungen zum Suchtmittelkonsum sind unter anderem in folgenden Gesetzen und Vereinbarungen festgelegt[4]:

  • Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG),
  • Unfallverhütungsvorschrift „Grundsätze der Prävention“ (DGUV Vorschrift 1),
  • Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV),
  • Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG),
  • Straßenverkehrsgesetz (StVG),
  • Dienst-/Betriebsvereinbarungen, Betriebsregelungen.

Das Arbeitsschutzgesetz und die DGUV Vorschrift 1 konkretisieren die Verhaltenspflichten im betrieblichen Arbeitsschutz. Diese Vorschriften gelten auch im Umgang mit suchtmittelauffälligen Beschäftigten.

Spezielle Vorgaben zum Umgang mit Alkohol und Drogen am Arbeitsplatz werden in der DGUV Vorschrift 1 beschrieben. Nach § 15 Abs. 2 DGUV Vorschrift 1 dürfen Versicherte sich „durch den Konsum von Alkohol, Drogen oder anderen berauschenden Mitteln nicht in einen Zustand versetzen, durch den sie sich selbst oder andere gefährden können“.[5]

Gleichzeitig dürfen Unternehmerinnen und Unternehmer nach § 7 Abs. 2 DGUV Vorschrift 1 „Versicherte, die erkennbar nicht in der Lage sind, eine Arbeit ohne Gefahr für sich oder andere auszuführen, mit dieser Arbeit nicht beschäftigen“.[6] Bei offensichtlichen Veränderungen im Auftreten und Verhalten darf die betroffene Person auf keinen Fall weiterarbeiten. Im akuten Fall muss Beschäftigten, die aufgrund von Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenkonsum nicht mehr sicher arbeiten können, für diesen Tag ein Beschäftigungsverbot ausgesprochen werden. Führungskräfte sollten im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht versuchen, für einen sicheren Nachhauseweg zu sorgen, zum Beispiel, indem sie für die betroffene Person ein Taxi rufen oder Angehörige kontaktieren.[7]

§ 5 ArbStättV sichert nicht rauchenden Beschäftigten einen Anspruch auf einen rauchfreien Arbeitsplatz und Pausenraum zu.

In der Betriebs- oder Personalvereinbarung kann unter anderem ein Alkohol- beziehungsweise Suchtmittelverbot bei der Arbeit festgelegt werden. Besonders bei Tätigkeiten mit hohem Gefährdungspotenzial (unter anderem Führen von Fahrzeugen oder Arbeitsmaschinen, Arbeiten an Maschinen, Tätigkeiten mit Gefahrstoffen, Elektroarbeiten) ist dies empfehlenswert. § 77 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) regelt die Bedingungen, die für den Abschluss von Betriebsvereinbarungen gelten.

Ansätze in der betrieblichen Suchtprävention

Die wichtigsten Ziele der Prävention sind:

  • das Thema enttabuisieren – nicht wegsehen,
  • über Risiken von Suchtmitteln aufklären,
  • Einnahme von Suchtmitteln am Arbeitsplatz regulieren, zum Beispiel Punktnüchternheit anstreben/einfordern,
  • auffälliges (Konsum-)Verhalten erkennen und ansprechen,
  • suchtfördernde Arbeitsbedingungen wahrnehmen und verändern.

Für eine effektive Suchtprävention greifen verschiedene Ansätze idealerweise ineinander. Dabei sind sowohl verhältnis- als auch verhaltenspräventive Maßnahmen bedeutsam. Um alle Maßnahmen wirksam zu implementieren, sollten klare Prozesse und Strukturen im Betrieb verankert werden.

Neben suchtmittelspezifischen Maßnahmen tragen viele Maßnahmen zur Suchtprävention bei, die auch allgemein sicherheits- und gesundheitsförderlich wirken. Die folgende Übersicht (Tabelle 1) stellt wesentliche Ansatzpunkte dar. Sie umfasst auch sekundär- und tertiärpräventive Maßnahmen, die erst ansetzen, wenn bereits missbräuchliches Verhalten auftritt oder eine Rückfallprophylaxe nach einer Suchtbehandlung notwendig wird.

Bei der Planung eines betrieblichen Ansatzes zur Suchtprävention müssen in jedem Fall die Geschäftsführung und die Interessenvertretung eingebunden werden. Gibt es im Betrieb keine Interessenvertretung, können suchtpräventive Maßnahmen auch über das Direktionsrecht der Unternehmensführung geregelt werden. Vorlagen zu betrieblichen Regelungen sind zum Beispiel zu finden in der DGUV Information 206-009 „Suchtprävention in der Arbeitswelt – Handlungsempfehlungen“.[8] Diese befindet sich derzeit in der Überarbeitung. Auch die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) bietet hierzu eine Handlungshilfe an.[9]

Tabelle 1: Ansätze zur betrieblichen Suchtprävention (in Anlehnung an DGUV Information 206-009) | © DGUV
Tabelle 1: Ansätze zur betrieblichen Suchtprävention (in Anlehnung an DGUV Information 206-009) ©DGUV

Angebote der gesetzlichen Unfallversicherung

Die Unfallversicherungsträger unterstützen und beraten bei:

  • der Berücksichtigung psychischer und physischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung,
  • der Schulung von Führungskräften und Beschäftigten zum Umgang mit psychisch beeinträchtigten Personen im Rahmen der Fürsorge,
  • dem Aufbau eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements.

Darüber hinaus bieten sie Seminare und Fortbildungen an, zum Teil auch für angehende Suchtberatende.

Schnittstellen zu anderen Sozialversicherungszweigen

Neben der gesetzlichen Unfallversicherung unterstützen auch die gesetzliche Krankenversicherung, die gesetzliche Rentenversicherung, die Integrationsämter und die Agentur für Arbeit Unternehmen bei der Prävention. Die „Landkarte der Unterstützenden“ informiert über das Portfolio der Sozialleistungsträger zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen, der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF), des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) sowie zu medizinischen Leistungen der Prävention.[10]

Die BGF-Koordinierungsstellen[11] der gesetzlichen Krankenversicherung vermitteln Angebote an interessierte Betriebe und es bietet sich an, gerade kleine Unternehmen dorthin zu verweisen. Ihr Leistungsspektrum enthält Angebote zur verhältnisbezogenen und verhaltensbezogenen Suchtprävention. Neben der Information und Beratung zur gesundheitsförderlichen Gestaltung von Arbeitstätigkeiten und -bedingungen sowie zu gesundheitsgerechter Führung, verhaltensbezogenen Interventionen zur Stressbewältigung und Ressourcenstärkung gibt es beispielsweise auch Tabakentwöhnungsangebote.

Die gesetzliche Rentenversicherung informiert zu den Themen Beurteilung der Arbeitsbedingungen sowie BGM und stellt Handlungshilfen zur Verfügung. Unter „RV Fit“ bietet die Rentenversicherung medizinische Leistungen für Beschäftigte mit ersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen an, um deren Erwerbsfähigkeit zu sichern. Hierunter fallen unter anderem Sensibilisierung und Förderung der Eigenverantwortung für Gesundheit und Maßnahmen für einen gesundheitsförderlichen Lebensstil im Alltag und am Arbeitsplatz (kostenfreies Trainingsprogramm mit Elementen zu Bewegung, Ernährung und Stressbewältigung).

Im Handlungsfeld BEM unterstützen die gesetzliche Rentenversicherung, Unfallversicherung und Krankenversicherung und die Integrationsämter/Inklusionsämter Betriebe beim Aufbau und der Durchführung eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements.

Auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die Gesundheitsämter der Länder beziehungsweise die entsprechenden landesbezogenen Stellen beraten und unterstützen im Bereich Gesundheitsförderung, beispielsweise bei der Prävention von „Rauchen“ im betrieblichen Setting.

Weiterführende Handlungshilfen: